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Kindheit ohne Kita

„Na, hast du heute Kindergarten-frei?“

Ich bin unterwegs mit der Crew. Die Frau lächelt meinen Großen an. Der ist allerdings viel zu beschäftigt mit durch-die-Gegend-rennen und auf-der-Stelle-zappeln um ihr eine Antwort zu geben. In seinem Übermut erzählt er stattdessen wieder einmal irgendeine Quatschgeschichte. Sowas wie „Wenn man Kirschen isst, dann gehen die Kirschen in den Bauch und in den Magen und am Ende kommt Kirschenkacki raus.“. Großes Gelächter unter meinen Jungs. Ich muss schmunzeln. „Er geht nicht in den Kindergarten.“, antworte ich für meinen Sohn, der nun mit seinem Bruder trockene Kirschen vom Boden in die Spalten eines Baumstumpfes stopft. Kurzer irritierter Blick. „Naja, er war kurzzeitig im Kindergarten, aber das hat für uns nicht so gut funktioniert, also haben wir ihn wieder abgemeldet.“, erkläre ich.

 

Ich denke an die kurze Unterhaltung vom Vormittag. Natürlich, ein Kind, ganz offensichtlich über Drei, dem man vormittags auf dem Spielplatz oder beim Einkaufen begegnet, fällt auf. Gerade wird mir klar, dass mich diese Frage auch dieses Mal wieder überrumpelt hat. Ich muss lächeln. Für mich ist unser Alltag so selbstverständlich, dass mir erst durch eine solche Frage wieder bewusst wird, wie unüblich unsere Entscheidung in unserem Kulturkreis ist. „Normal“ bedeutet hier etwas anderes. Normal ist, dass 30% der Einjährigen, 62% aller Zweijährigen und 90% aller Dreijährigen in Deutschland institutionell betreut werden¹. Und was eine gute Möglichkeit. Die Kosten für die Eltern sind vergleichsweise überschaubar und werden sogar von manchem Arbeitgeber übernommen². Welch ein Privileg, dass wir in Deutschland auf ein solches Auffangnetz zählen können. Für Familien, die auf zwei Einkommen angewiesen sind, Alleinerziehende und Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen ist die Kita eine wichtige Stütze.

Doch welche Bedeutung hat die Kita für meine Familie? Mein Mann arbeitet Vollzeit und ich bin mit unseren drei Kids (8 Monate, 2 und 4 Jahre) zuhause. Wir sind mit einem Gehalt gesegnet, dass für uns (und für unseren Lebensstil) ausreicht. Ich habe nie auf den Kitastart hingefiebert und tatsächlich hatte ich vorher eher meine Zweifel. Doch, wie man das so macht, haben wir unseren Sohn dann mit drei Jahren angemeldet. Zwei Wochen Eingewöhnungszeit sollten es sein. Dies mussten wir mit meinen Eltern und Großeltern planen, denn den kleinen Bruder konnte ich bei der Eingewöhnung nicht mitnehmen (die Jüngste war zu dem Zeitpunkt noch Bauchbewohnerin). Das Timing war nicht gut, denn direkt nach der Eingewöhnung waren wir zwei Wochen in Norddeutschland. Nach unserem Urlaub wollte unser Kleiner dann nicht mehr hin. Also haben wir die Eingewöhnung erneut gestartet, inklusive erneuter Absprachen um den kleinen Bruder zu versorgen. Schon kam die erste Kitakrankheit. Eine Woche zuhause. Neustart in der Kita. Und so ging die Geschichte weiter. Wir waren krank, die kleine Schwester wurde geboren, die Kita hatte Personalengpässe, wir waren krank usw. Unser Sohn war in den ersten fünf Monaten mit insgesamt sechs Wochen Eingewöhnung weniger als die Hälfte der Zeit in der Kita und wir mussten ihn in der Regel morgens überreden. Hätten wir ihn entscheiden lassen: er wäre vielleicht zwei Mal freiwillig gegangen. Über all die Wochen hinweg haben mich Zweifel geplagt. Als Kind ging ich selber nicht gerne in den Kindergarten und das änderte sich über die Jahre auch nicht. Das Gefühl kannte ich also gut. Ich war mir natürlich darüber im Klaren, dass ich meinen Sohn mit meiner Einstellung beeinflussen könnte und habe versucht neutral an das Thema heranzugehen. Andererseits wollte ich seinen Unwillen natürlich auch nicht übergehen. Ich wollte nie so etwas sagen, wie „das muss jetzt aber sein“, da es einfach nicht stimmte. Ich war ja schließlich sowieso zuhause. Trotzdem wollte ich ihm eigene Erfahrungen in der Kita ermöglichen, ungetrübt meiner eigenen negativen Empfindungen.

Nach fünf Monaten Hin und Her meldeten wir ihn ab - trotz mancher Einwände von Außen und schockierten Gesichtern. Es fühlte sich an wie ein Befreiungsschlag. Bis jetzt haben wir diesen Schritt nicht bereut, ganz im Gegenteil: Ich finde immer mehr gute Gründe für eine Kindheit ohne Kita. Vier davon möchte ich heute darstellen.



Kita Plätze sind rar

Wir alle haben es mittlerweile oft genug gehört: Es gibt viel zu wenige Kitaplätze. Ab einem Jahr hat jedes Kind Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Eine idyllische Vorstellung. Die Realität sieht anders aus. Volle Kitas, überall Personalmangel und häufige Betreuungsausfälle von Herbst bis Frühling³. Ich glaub dazu muss ich nicht viel sagen. Warum soll ich mit meinen Kindern also noch mehr Plätze belegen, die ich doch eigentlich nicht brauche? Warum soll ich meine Kinder unbedingt anmelden, nur damit schließlich eine (schlecht bezahlte) Erzieherin alleine 15 Kleinkinder beim Mittagessen betreuen muss? Damit ich mal wenigstens fünf Stunden meine Ruhe habe? Oder damit ich mich zuhause statt um drei Kleinkinder nur um Zwei kümmern muss? Das halte ich einfach für unverhältnismäßig und ehrlich gesagt auch für etwas egoistisch - auch wenn es zuhause anstrengend ist und das ist es definitiv! Ich denke diese Haltung ist tatsächlich auch eine Ursache für zu wenige Kita Plätze. Gibt es doch (sozial schwache) Familien und vor allem Alleinerziehende, die dringend auf die Kita angewiesen sind und deren Kinder keine Alternative haben. Die wirklich dringend auf ein (zweites) Gehalt angewiesen sind. Wo Mamas nicht für ihre Me-Time, aus Langeweile oder aus Überforderung zuhause wieder in den Job einsteigen, sondern für die Miete. Ich weiß, das klingt hart. Ist es auch.

Kleiner Exkurs zum Thema Langeweile und Überforderung: Oftmals verschwimmen da ja auch die Grenzen. Ich weiß natürlich, dass es mit Baby oder Kleinkind allein zuhause langweilig und anstrengend sein kann. Bleibt die Frage, ob das als Grund reicht? Was sagen dann die Erzieher, die den ganzen Tag die kleinen Kids betreuen? Wenn wir davon reden, dass wir uns mit unseren kleinen Kindern zuhause mental nur langweilen und unsere kognitiven Fähigkeiten bei all den Kleinkind-Themen verkümmern, dann reden wir unsere heiß begehrten Erzieher ebenso klein, wie die wirklich wichtige und herausfordernde Arbeit, die sie machen (und die wir als Eltern zuhause übernehmen sollten). Ich denke Langeweile ebenso wie Überforderung gehört in allen Lebensbereichen dazu, übrigens auch im Job. Wie wärs mit etwas Durchhaltevermögen? Für mal-was-anderes-sehen kannst du auch den Abend nutzen, das Wochenende, den Mittagsschlaf. Langeweile und Not machen erfinderisch, also werd kreativ! Kinder sind eine geniale Chance über sich hinaus zu wachsen. Abgesehen davon: fängt nicht möglicherweise die spannendere Zeit mit Kindern mit genau dem Alter an, mit dem man sie dann spätestens in der Kita anmeldet? Ihr kennt das: alles ein Phase.


Schlechter Betreuungsschlüssel

Während der Andrang auf die Kitas immer größer wird¹, wird der Erzieherberuf immer unbeliebter und der Personalmangel ist real³. Ich habe eben schon ein Beispiel genannt: eine Erzieherin, die allein für 15 Kleinkinder beim Mittagessen verantwortlich ist. Zugegeben, das sind Ausnahmesituationen, aber die darf es einfach nicht geben. Zu oft haben wir es in den wenigen Monaten unserer Kita Zeit erlebt: die Personalengpässe (vor allem während der Krankheitswellen in den Wintermonaten) in den Kitas hat zur Folge, dass immer wieder zu wenige Erzieher zu viele Kinder betreuen müssen³. Damit hat sich die Bastelidylle ganz schnell erledigt. Wer schon einmal sieben Zwei- bis Sechsjährige zu einem Kindergeburtstag zu Besuch hatte, der kann sich vorstellen wie viele Kapazitäten für Vorlesen, Basteln, Erzählen und Sandburg bauen bleiben. Da ist man in der Regel nach einem Nachmittag froh, wenn alle überlebt haben. Wir hören oft von den armen Eltern und Kindern, wenn die Kita wieder einmal schließen muss. Wir reden kaum von den armen Kindern, die vor allem in der Notbetreuung den Vormittag eben möglichst ohne Betreuung klarkommen müssen. Gerade kleine Kinder brauchen ständig emotionale und körperliche Nähe von engsten Bezugspersonen und die „Größeren“ genießen tiefere Gespräche und haben so viel zu erzählen. Studien raten zu einem Betreuungsschlüssel von maximal drei Kindern unter Drei und sieben Kindern über Drei auf einen Erzieher⁴. Wann hast du zuletzt für fünf Stunden auf drei Zweijährige aufgepasst? Drei Zweijährige mittags ins Bett gebracht? Mit vier Dreijährigen mit Duplosteinen gebaut und gleichzeitig mit Dreien ein Buch gelesen? Tendenziell ist der Betreuungsschlüssel in deutschen Kitas aktuell leider schlechter³. Die beste Erzieherausbildung ändert nichts daran, dass Kinder Kinder sind. Ein „Sack Flöhe“ sagt meine Mama immer. Ist das pädagogisch wertvoll oder bleibt da vielleicht hier und da ein emotionales Loch? Der leidenschaftlichste Erzieher kommt unter solchen Umständen an seine Grenzen und damit bleiben auch zwangsläufig echte Bedürfnisse von Kindern auf der Strecke.


Reizüberflutung vorprogrammiert

Wenn ich in Gesprächen erwähne, dass keins unserer Kinder in der Kita ist, besteht immer gleich die Sorge, dass sie keinen Kontakt zu anderen Kindern haben oder nicht genug gefördert werden. Auch wenn ich dann von unserem Alltag mit Geschwistern, Großeltern, Eltern-Kind-Treffen, Spielplatz-Dates und Kindergruppen im Wald oder auf dem Bauernhof erzähle, habe ich den Eindruck, dass all das nur selten auf Akzeptanz, geschweige denn Verständnis stößt. Dabei höre ich einfach auch oft von Kindern, denen die Kita „zu viel“ und zu laut ist. Diesen Eindruck hatte ich auch bei meinem Sohn. Er kann sich zwar gut mit einem Puzzle oder Büchern beschäftigen, aber er spielt und tobt durchaus sehr gern sehr laut mit anderen Kids. Ich würde also nicht sagen, dass er ein besonders ruhiges Kind ist, das viel Zeit mit und für sich selbst braucht. Trotzdem sagte er immer wieder, dass ihm im Kindergarten zu viele Kinder sind und die wenigen Tage, an denen kaum Kinder da waren (wie bspw. in der ersten Januarwoche), waren ihm am liebsten. Nach den Kitavormittagen war er außerdem nicht so ausgeglichen, wie ich das erwartet hatte. Im Gegenteil, er war aufgedreht und müde und dementsprechend „freundlich“. Nicht unbedingt verwunderlich. Ein Vormittag mit zwanzig Kleinkindern ist mit Sicherheit alles andere als ruhig. In den ersten Jahren versuchen die meisten Eltern Reizüberflutung möglichst zu vermeiden, ist sie doch oft eine Ursache für unruhigen Schlaf, schlechte Stimmung und emotionale Ausbrüche⁵. Die Kita mit einer Vielzahl an Spielzeugen und vielen Kindern ist nicht unbedingt eine reizarme Umgebung. Natürlich bemüht man sich um eine schöne und anregende Umgebung für die Kinder. Für Ab und An ist das ganz sicher ein Garant für eine gute Zeit. Sehr fraglich finde ich aber, ob Kinder diesem Trubel täglich für fünf bis neun Stunden ausgesetzt werden sollten.


Bindungsorientiert oder Bindungsmangel

Wie lautet das Lieblingswort der Profi-Eltern des 21. Jahrhunderts? Ganz richtig: bindungsorientiert. Oh, wie sehr mich dieser Begriff ärgert. Oder vielmehr das große Paradoxon aktueller Erziehungstrends. Während die Erkenntnisse zur bindungsorientierten Erziehung mehr und mehr um sich greifen und an Bekannt- und Beliebtheit gewinnen, gewinnt auch die Kita immer mehr an Beliebtheit bei Eltern¹. Der Trend der bedürfnisorientierten Erziehung ist natürlich grundsätzlich gut, denn endlich werden Kinder emotional verstanden und gehört. Zwei Stunden Einschlafbegleitung gelten mittlerweile als das A und O einer liebevollen Eltern-Kind Beziehung, doch dem gegenüber steht die oft unfreiwillige, aber obligatorische Kita Eingewöhnung mit drei, zwei oder sogar weniger als einem Jahr. Warum hört bedürfnisorientiert eigentlich an den Pforten der Kita auf? Studien haben gezeigt, dass die tägliche Trennung von den engsten Bezugspersonen in den ersten Lebensjahren zu einer chronischen Stressbelastung bei Kindern führt, die zum Teil noch im Teenageralter nachweisbar ist. Kurze Trennungen von den Eltern seien durchaus Entwicklungs- und Resilienz-fördernd. Regelmäßige und umfangreiche Betreuung und die damit verbundenen länger andauernden Trennungen von wichtigen Bezugspersonen dagegen hätten schlechte Stimmung, geringere Sozial- und Kooperationskompetenz, Hyperaktivität oder aggressives Verhalten zur Folge.⁶

Mit dem dritten Lebensjahr können Kinder laufen und sprechen und sind zunehmend selbstständiger unterwegs, doch die Stressbelastung löst sich sicher nicht einfach in Luft auf. Eine Kultur jedoch, welche die ständige Trennung kleiner Kinder von ihren Eltern über fünf bis neun Stunden normalisiert, greift dem gesunden Maß meiner Meinung nach immer noch vor.



Zusammenfassung

Die meisten Kinder in Deutschland besuchen ab dem Kleinkindalter die Kita. Es ist so normal, das auch Eltern „ohne tatsächlichen Bedarf“ das Betreuungsangebot für ihre Kinder in Anspruch nehmen. Es ist sogar so selbstverständlich, dass ich mich regelmäßig dafür rechtfertigen muss, dass ich das Angebot nicht in Anspruch nehme. Ich finde es absurd, dass Großfamilien mit fünf, sechs, sieben Kindern in unserer Gesellschaft als grenzwertig gelten. Eine Kita Gruppe jedoch mit 15 - 25 fast Gleichaltrigen auf drei Erzieher, das hält die deutsche Mehrheit offenbar für pädagogisch wertvoll.

Meine Kritik gilt nicht den Erziehern oder der Kita an sich. Sie gilt nicht einmal den Eltern, die einfach dem kulturell geprägten Weg folgen. Sie gilt dem System und der gesellschaftlichen Annahme, der Kitabesuch sei der einzig richtige Weg. Denn vielleicht ist dem nicht so. Vielleicht sind Kinder tatsächlich auch in ihrer Familie gut aufgehoben, in Treffen mit anderen Familien, mit mehreren Generationen, mit Großeltern, mit Freunden auf dem Spielplatz, in Sportvereinen und in anderen Kindergruppen. Vielleicht tut es ihnen gut, in den normalen Alltag mit all seinen Aufgaben integriert und eingespannt zu werden, im Haushalt, beim Einkaufen und beim Kochen. Vielleicht ist das sogar der Ort, an den Kinder gehören.


Ja, wir brauchen die Kita. Wir brauchen eine wirklich pädagogisch wertvolle Lösung für die Kinder von Alleinerziehenden und Doppelverdienern und für Kinder aus sozial schwachen Familien. Eine Lösung mit einem Betreuungsschlüssel von weniger als drei U3-Kindern bzw. sieben Ü3-Kindern pro Erwachsenen. Mit Raum für emotionale und körperliche Nähe. Raum für ein ganzes Bilderbuch, nicht nur ein paar Seiten. Raum für all die Erlebnisse und Gedanken, die mitgeteilt werden wollen, statt nur für die ersten zwei Minuten. Raum für Rückzug, Ruhe und Sicherheit. Raum für Nähe und Bindung. Eine wirklich kindgerechte Betreuung. Aber ebenso wünsche ich mir mehr Akzeptanz und Anerkennung dafür, dass ich meine Kinder nicht in die Kita gebe und ich wünschte, dass es mehr Eltern gäbe, die der Bequemlichkeit und „Selbstverständlichkeit“ der Kita nicht nachgeben, sondern die Verantwortung für die Erziehung und Betreuung ihrer Kids gerne selbst übernehmen.


Quellenangaben

  1. https://www.it.nrw/anfang-maerz-2022-waren-nrw-304-prozent-der-kinder-unter-drei-jahren-kindertagesbetreuung-18084

  2. https://de.euronews.com/next/2023/03/09/kinderbetreuung-europa-teuer

  3. https://www.vbe.de/presse/pressedienste/pressedienste-2023/dramatische-zuspitzung-personalmangel-gefaehrdet-fruehkindliche-bildung

  4. https://www.nw.de/nachrichten/zwischen_weser_und_rhein/22848585_Personalschluessel-in-NRW-Kitas-weiterhin-nicht-kindgerecht.html

  5. https://www.kita.de/wissen/reizueberflutung-bei-kindern/

  6. https://www.kinderaerztliche-praxis.de/a/contra-u-betreuung-in-kitas-gruppenbetreuung-in-den-ersten-lebensjahren-fuehrt-zu-chronischer-stressbelastung-mit-folgen-1948366

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